Читать книгу Das Tagebuch der Jenna Blue онлайн | страница 31

Ich bete, dass sie nicht weiterblättert. Dass sie denkt, auf den folgenden Seiten würde das Märchen weitergehen. Noch tiefer kann ich sie nicht blicken lassen.

»Lass uns tauschen«, schlägt Scarlett da vor und das Buch zu; ihre Lust am Vorlesen ist vergangen. Ob die Worte ihren ureigenen Ängsten zu nahe gekommen sind? Wir mögen unterschiedliche Rollen einnehmen, doch wir spielen im selben Stück. »Gib mir die Tasche, dann bekommst du es zurück.« Fordernd streckt sie die Hand aus.

Die Tasche gegen das Buch.

Verblassende Erinnerungen gegen meine intimsten Gedanken.

Welcher Verlust schmerzt mehr? Ich kralle die Finger um den veilchenblauen Riemen. Der Stoff duftet längst nicht mehr nach Mutter, zu oft habe ich die Tasche des Abends aus der Kiste unter dem Bett befreit, sie an mein Gesicht gedrückt und mich in ihre Umarmung geflüchtet. Doch ihr Duft ist verflogen wie das Gefühl ihrer Arme. Jetzt weiß ich weder, wie sie sich anfühlte, noch wie sie einst roch. Alles, was von ihr bleibt, ist diese Tasche. Meine Finger ertasten die Stickerei blind. Vergissmeinnichtblüten nebst hellgrünen Blättern. Das Futter im Innern trägt denselben Ton, der an taubedeckte Frühlingswiesen erinnert, an die leuchtende Unterseite von Birkenblättern, die sich in der Sonne räkeln. Ich kann sie nicht hergeben – und doch bleibt mir keine Wahl, wenn ich mein Tagebuch zurück möchte.

Mich überkommt eine so große Mattigkeit, dass ich die Augen schließe. Der Zorn zerfließt, ich kann ihn nicht halten. Ich stelle mir vor, was Anna sagen würde, wäre sie hier. Gewiss bäte sie darum, Scarlett die Tasche auszuhändigen. Um des Friedens willen. Sie hat niemals meine Partei ergriffen, in keinem der endlosen Streite, die auf Mutters Verschwinden folgten. Sie hat bloß warnend meine Hand gedrückt und mir zugeflüstert: Die Stärkere gibt nach.

Nur fühle ich mich nicht stark.

Ich fühle mich unendlich schwach.

»Also? Was meinst du?« Scarlett schafft es sogar, zu lächeln. Und wie sie so vor mir hockt und das Licht ihres Smartphones in meinen Augen sticht, weiß ich, dass ich ihr unterlegen bin. Ich kann nicht gewinnen. Nicht wenn ich mich so klein fühle, mich bewusst kleinmache. Unsichtbar. Wie des Nachts, wenn ich ihr folge …


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