Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 12

Haben sich Ihre Lektüren dann gravierend verändert, als Sie 1987 nach Deutschland gekommen sind?

Eigentlich nicht, mich hat nach meiner Ausreise nach wie vor das Thema Diktatur interessiert, nicht nur die in Rumänien, sondern auch in anderen Ländern. Was sich aber in Deutschland änderte: Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich musste nichts mehr verstecken. Ich konnte einfach in eine Buchhandlung oder in eine Bibliothek gehen, um mir ein Buch zu besorgen. Also sind ganz andere Beziehungen zu Menschen, zu Büchern, möglich geworden und natürlich dann auch neue ästhetische Erfahrungen. Ich hatte nun auch den Wunsch nach Lektüre jenseits des notwendigen Verstehens des Lebens. Vielleicht hätte ich manches Buch früher in Rumänien nicht gelesen, was ich in Deutschland las, zum Beispiel die sehr, sehr großartigen Bücher von Per Olov Enquist, die nichts mit Diktatur zu tun haben. Ich halte ihn für einen großartigen Stilisten. Dass solche Lektüren dazu kamen, war vielleicht neu. Ich selbst habe so viel über Diktatur geschrieben oder schreiben müssen, weil ich so kaputt war und weil ich den Kopf bei gar nichts anderem hatte und weil es ja die Diktatur in Rumänien die ersten Jahre, in denen ich in Deutschland lebte, immer noch gab. Es tut weh, wenn man grauenhafte Verhältnisse selbst erlebt hat und weiß, dass andere sie immer noch erleben, und man kann eigentlich nichts für sie tun, außer man spricht und schreibt darüber. Ich fand, das sei das Mindeste, was ich tun könnte, aber selbst wenn ich diesen Grund nicht gehabt hätte, ich hätte so oder so über nichts anderes schreiben können.

Über Theodor Kramer, Bernhard oder auch Márquez haben wir gesprochen. Sind denn aus der Gegenwartsliteratur noch Bücher dazugekommen, denen Sie einen ähnlichen Stellenwert wie den Büchern der Genannten zusprechen würden?

Ja, immer wieder. Ich habe gerade »Auf Erden sind wir kurz grandios« von Ocean Vuong gelesen. Ich könnte das ganze Buch abschreiben, es ist so grandios. Als Leserin bin ich total ungeschützt. Ich lese ganz langsam und wenig und bemühe mich darum, dass das Buch noch eine Weile hält. Aber mit anderen Büchern bin ich ungeduldig, Bücher, in denen ich nichts finde. Weil ich als Leserin so ungeschützt bin, lasse ich mich auch nicht vereinnahmen. Wenn ich an einem Buch nichts finde, zwanzig, dreißig Seiten lang, dann sage ich, ist gut, ist nicht für mich, ist nicht meine Sache.


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