Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 8

Andere Bücher bekamen wir aus dem Ausland, von Bekannten, die bereits ausgewandert waren, und über »Internationes«. Dafür musste man eine Begründung schreiben, was wir auch taten, das heißt wir erfanden eine. Beispielsweise schrieben wir, dass auf dem Gymnasium ein Aufsatz über dies oder das von uns verlangt wurde und wir dafür bestimmte Bücher benötigen würden. Das funktionierte gut. Wir erhielten Nachschlagewerke, Lexika, aber auch literarische Werke, etwa von Peter Handke. Die Autoren der von uns bestellten Bücher durften nur keine Feinde des Sozialismus sein. Thomas Bernhard war für mich besonders wichtig, weil er in seinen Büchern den alltäglichen Faschismus zum Thema gemacht hat. Ich habe von ihm mehr gelernt als von allen anderen, die ich las. Mir war so, als würde Thomas Bernhard die Gesellschaft beschreiben, in der ich lebte.

Auch ich bin über Thomas Bernhard zur Literatur gekommen, das »Kalkwerk« war eine meiner ersten eigenständigen Lektüren. Aber wir im Westen haben Bernhard wahrscheinlich aufgrund unserer anderen Sozialisation komplett anders gelesen.

Ja, ihr habt die langen Sätze gelesen und seine unglaubliche Intelligenz und seinen Humor, aber auch seine Fähigkeit zu Ironie und Sarkasmus geschätzt. Es ist so wie mit Franz Kafka, über den Imre Kertész gesagt hat: Bei uns in Osteuropa sei Kafka ein Realist gewesen. Wir haben Bernhard und Kafka anders gelesen, wir haben ihn mit der Diktatur im Nacken gelesen und das ist etwas anderes, als wenn du keine Diktatur im Nacken hast. Du gehst, wenn du Bernhard mit den Erfahrungen in einer Diktatur gelesen hast, in eine ganz andere Richtung. Lektüren hängen eben stets vom eigenen Leben ab. So wie in der Polizei jeder etwas anderes sieht. Einer, der aus einer Demokratie kommt, sieht die Polizei unvoreingenommener an als jemand, der ein Leben lang von ihr bedrängt oder misshandelt wurde. Wie verstehen wir eigentlich Bücher? Wir verlängern doch nur etwas, was wir kennen oder wir lernen es kennen, aber wenn wir etwas Neues kennenlernen, geht auch das aus von dem, was wir zuvor erfahren haben. Als ich einmal zu Besuch in Israel war, hörte ich an der Universität in Jerusalem, dass für Israelis zum Beispiel »Der Handschuh« von Schiller oder »Der Erlkönig« von Goethe etwas mit dem Holocaust zu tun haben können. Diese Gedichte werden dort ganz anders wahrgenommen. Diese Lesart ist eben auch möglich, nur sehen Menschen mit anderen Erfahrungen diesen Zusammenhang nicht.


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