Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 9

Durch Sie habe ich den österreichischen Autor Theodor Kramer kennengelernt. Sie haben eine Sammlung mit seinen Gedichten herausgegeben. War Ihnen Kramer bereits damals in Rumänien bekannt?

Ich bin in Rumänien in einem Antiquariat auf ein Buch von ihm gestoßen, publiziert in einem Exilverlag. Ein Band mit Gedichten, der »Die Gaunerzinke« hieß. Erst später habe ich erfahren, dass Kramer Jude war, dass er im letzten Moment vor den Nazis fliehen konnte und dass seine Gedichte auch diese Situation und seine Angst in dieser Situation beschreiben. Seine Gedichte waren wie ein Magnet für mich, sie zogen mich vielleicht deshalb so an, weil wir in Rumänien auch Angst hatten. Seine Angst muss noch viel größer und tödlicher gewesen sein als die, die ich erlebte, sicherlich. Dennoch gingen mir seine Gedichte nahe, auch weil ich wusste, mein Vater war in der SS und mein Onkel war ein Nazi und Theodor Kramer, den ich so schätzte, musste fliehen, weil mein Vater und mein Onkel wie viele andere Nazis waren. Wie ich vorhin sagte: Leben und Literatur sind aufeinander bezogen.

Ähnlich erging es mir auch mit Paul Celan. Ich habe mich geniert vor den Texten – und habe sie gleichzeitig so gemocht. Das hat mich verwirrt: Auf eine Weise fühlte ich mich mit Celan seelenverwandt, und gleichzeitig wusste ich, theoretisch hätten ihn mein Vater und mein Onkel umbringen können. Diesem Dilemma war ich ausgesetzt, aber weil ich dieses Dilemma ernst nahm, bin ich ein politischer Mensch geworden. Ich hatte und habe für Theorien nie Zeit gehabt, weil ich immer bedrängt wurde von dem, was war und was sein musste. In dem Sinne habe ich anfänglich auch keine Literatur im eigentlichen Sinn geschrieben, ich wollte mir vielmehr mit dem Schreiben immer selbst helfen. Ich war unglaublich beeindruckt, wenn ich gelesen habe, was andere geschrieben haben, Thomas Bernhard etwa oder Márquez, diese Sätze, diese Schönheit, da war ich völlig fertig. Ich dagegen hatte überhaupt keine Distanz, ich schrieb, weil ich wissen wollte, wie man lebt. Und das hat sich nicht verändert. Wenn ich heute mal wieder Gedichte von Helga M. Novak oder Sarah Kirsch, von Theodor Kramer oder von Rolf Bossert lese, die mir damals in Rumänien viel bedeuteten, die mir in meiner Angst halfen, dann weiß ich auch heute noch, warum sie mir damals wichtig waren, eben weil ich sie so nötig hatte. Angst ist ein guter Literaturkritiker.


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