Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 7

Ich würde gerne nochmal auf Ihre Lektüren zu sprechen kommen. Wie sind Sie zum Lesen, insbesondere von deutschsprachiger Literatur gekommen?

Zum Lesen bin ich in der Stadt, auf dem Gymnasium gekommen, zuerst anhand von Schulbüchern. Paul Celan zum Beispiel war darin abgedruckt, sein Gedicht »Die Todesfuge«, wenn auch nur teilweise, weil verschwiegen werden musste, dass die Konzentrationslager, in denen Celans Eltern ermordet worden waren, unter rumänischer Leitung gestanden hatten. Das waren natürlich immer die Faschisten gewesen, die hießen in Rumänien stets bloß die Faschisten; mit denen hatte Rumänien offiziell nichts zu tun. Dass Celan Suizid beging, wurde ebenfalls nicht gesagt, das hatte in einem sozialistischen Lehrbuch nichts zu suchen. Die Rumänen haben zwar so getan, als wären sie stets Antifaschisten gewesen, aber das ist falsch: Rumänien war unter Antonescu ein faschistischer Staat und Verbündeter Hitlers.

Ich habe in dieser Zeit auf dem Lyzeum aus Neugier angefangen zu lesen und weil ich dort eine Reihe von jungen Menschen kennenlernte, unter anderem Ernest Wichner und Gerhard Ortinau, die lasen alle. Für uns, die wir alle Deutsch sprachen, war insbesondere das Goethe-Institut in Bukarest wichtig. Rolf Bossert, einer aus unserer Gruppe, lebte in Bukarest und stellte den Kontakt her. Wir fuhren nach Bukarest und liehen uns Bücher im Goethe-Institut aus. Mit der Post hätten wir sie uns nicht schicken lassen können, weil der Geheimdienst die Päckchen gekapert und uns bei den Beschäftigten im Goethe-Institut dann als unzuverlässig verleumdet hätte, um so zu verhindern, dass wir uns weiter Bücher ausleihen können. Das Lesen führte dazu, dass wir uns vom Staat zu distanzieren begannen. Und ’68 hatte an unserer zunehmend kritischen Haltung ebenfalls einen Anteil. Sehr interessiert waren wir an Essays aus dem »Kursbuch«. Die Autoren dieser Zeitschrift mochten in einer Demokratie leben, aber wie wir hatten auch sie Eltern, die Nazis gewesen waren. Darüber war bis dahin dort so wenig geredet worden wie bei uns.


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