Читать книгу Das Tagebuch der Jenna Blue онлайн | страница 15

Ich? Oder sie?

Zu meinem Entsetzen greift sie auch noch zu dem alten Stoffhasen, den sie von Geburt an besitzt. Das Fell, ehemals flauschig weiß, ähnelt mehr dem eines Kadavers, dem Gesicht fehlt ein Auge und Wolle quillt wie Gedärm aus einem Riss, den sie stets verbot zu flicken.

»Wie spät ist es?«, frage ich.

»Zu früh«, sagt sie und winkt ihrem Spiegelbild mit der Hasenpfote zu. Wahrscheinlich existiert in jedem Haushalt ein solches Kuscheltier, dessen Ablaufdatum längst überschritten ist, das dennoch nicht entsorgt werden kann; zu viele Erinnerungen sind daran geknüpft, zu viele Tränen hat es aufgesogen, zu viele Nachtmahre in die Flucht geschlagen – falls Scarlett je Albträume hatte.

Was ich bezweifle. Nicht Scarlett.

Ich selbst besitze kein solches Tier. Kein Kissen. Keine Decke. Nichts. Anna sagt, ich hätte nie etwas gebraucht, ich hätte gar alles, was sie mir als Kind ins Bett legten, wieder hinausgeworfen. Vielleicht hat sich bereits darin mein Hang zur Einsamkeit angedeutet, so wie in Scarletts Hasen die Eigenheit, ihren Freunden alles abzuverlangen. Zerliebt nennt sie den Zustand, in dem er ist.

Zerstörerische, vernichtende Liebe.

Entspannt greift sie nach einem ultrakurzen Paillettenkleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe – und auch nicht in ihrem Schrank, dabei kenne ich jedes Kleidungsstück. Beinahe zwanghaft suche ich ihr Zimmer auf, sobald sie das Haus verlässt. Ich weiß, in welcher Schublade sie ihre Unterwäsche aufbewahrt und was sie zwischen den Seidenstoffen versteckt. Ich kenne den Inhalt ihres Schreibtisches so gut wie den ihres Mülleimers oder den der Briefe, die sie regelmäßig an Mutter schreibt. Sie sind kurz und knapp, mehr eine distanzierte Zusammenfassung der Erlebnisse, denn der Versuch echter Teilhabe. Ich weiß nicht, wozu sie die Briefe schreibt; genauso wenig wie ich weiß, woher das Kleid stammt.

Scarletts Mund verzieht sich spöttisch. »Ein Geschenk.«

Als wüsste sie, dass ich stöbere. Dass ich sie dafür verachte, wie leichtfertig sie Geld ausgibt. Papas Staatshilfe reicht kaum für die Nebenkosten. Anna führt Buch über alle Ausgaben und einigen Dorfbewohnern den Haushalt, um das Nötigste dazuzuverdienen. Ich trage meinen Teil bei, indem ich den örtlichen Friedhof pflege, das Gras stutze und die Grabsteine säubere.


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