Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 35

In dieser frühen Erzählung gelingt es Herta Müller, »die Spanne« zwischen der Konfiguration der totalitären Ordnung und der »erfundenen Wahrnehmung«,ssss1 die subversiv und de-konfigurierend wirkt, kenntlich zu machen: die Faktur der Gewalt wird ebenso offengelegt wie die Tatsache, dass sie keinen Geltungsanspruch erheben kann und am Ende wie ein Trugbild zerrinnt.

Der Kontrast des Gehalts der Erzählung zum Bekenntnis im Editorial, die »Entwicklung des Geistes der Freundschaft und der Verbrüderung zwischen allen Werktätigen, ohne Unterschied der Nationalität, für die Festigung der Einheit unseres ganzen Volkes« als »ständige Aufgabe«ssss1 anzunehmen, könnte kaum deutlicher sein. Die Redaktion beschwört den »Einklang mit der gesamten Presse«ssss1 – Herta Müller entlarvt ihn als totalitären Gleichtakt; die Redaktion bekennt sich zur »Tradition im besten Sinne der humanistischen und kommunistischen Tätigkeit der Journalisten und Schriftsteller«ssss1 – Herta Müller verweigert sich nicht nur affirmativer Sinnstiftung, sondern zersetzt ihren Anspruch und setzt individuelle Eigenlogik dagegen.

Die Erzählung »Inge« wurde im Band »Niederungen«, der 1982 im Kriterion Verlag in Bukarest erschien, wieder abgedruckt. Zwar wurden der jungen Schriftstellerin Preise und Ehrungen zuteil, doch beim Geheimdienst gingen bereits harsche Anklagen ein: »Kritik und noch mehr Kritik. Diese Kritik ist so destruktiv, dass man sich fragen muss, was denn der Zweck dieser Texte sein soll (ACNSAS, FI, Akte 233477, Bd. 1, 5).«ssss1 Langjähriger Chefredakteur der »Neuen Literatur« war von 1969 bis 1984 Nikolaus Berwanger, auch er ein banatdeutscher Schriftsteller, der sich 1984 für die Flucht in die Bundesrepublik entschied und dort ab 1987 im Marbacher Literaturarchiv arbeitete; er ließ durchaus kritische Untertöne jüngerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu. Das Personengeflecht von Redakteuren, Zensoren, Parteifunktionären, die alle als Spitzel infrage kamen, steigerte den Druck auf die Schriftstellerin erheblich. Interessanterweise wurde »Inge« aber nicht in die Ausgabe der »Niederungen« aufgenommen, die 1984 im Rotbuch Verlag erschien. Wilhelm Solms vermutete schon 1990, dass Herta Müllers Erzählungen gerade dort, wo sie ihre höchste »poetische Intensität« entfalten, »kaum zu ertragen sind« für die bundesdeutschen Leserinnen und Leser, und dass sie deshalb vom Lektorat nicht in die Ausgabe aufgenommen wurden. »Die ›eingefrorenen Bilder‹ aus dem Banater Dorf: die Bilder von den Schneemännern mit den ›Augen voller Gewalt‹, von den vor Gelbsucht fiebernden Pappeln und von den alten alleingelassenen Frauen – ›die leeren knochigen Kopftücher ohne Gesichter‹ – bleiben im Gedächtnis haften.«ssss1


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