Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 38

Alexandra Pontzen

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Herta Müllers Romane sind eigenartig und unverwechselbar. Die Autorin gewinnt dem Roman ästhetische Reize und sprachliche Qualitäten ab (oder fügt sie ihm hinzu), die traditionell nicht mit dem Genre verbunden werden, im Gegenteil. Unter Gesichtspunkten traditioneller Romanpoetik scheinen die Texte das Genre zu verfehlen: Weder sind Müllers Romane ›episch‹, indem sie ausführlich, wort- und detailreich ausholend weite historische, geografische oder biografische Bögen schlagen, noch sind sie ›narrativ‹, indem sie großformatige Tableaus oder Panoramen zeichnen, atmosphärisch eine Behaglichkeit des Erzählens mit sich führen oder dazu einladen, sich lesend zurückzulehnen beim Eintauchen in eine fremde Welt, geführt von einem kundigen Erzähler.

Die Erzählstimme in Herta Müllers Romanen ist eher lakonisch als eloquent, ihre Sätze sind nicht nur kurz, sondern leben von den Aussparungen, dem Nicht-Gesagten, Mitgedachten oder in einzelnen Wörtern, Wendungen und Motiven Implizierten. Ähnlich wie sonst in der Lyrik muss den Sätzen nachgedacht, müssen einzelne Bilder hin- und hergewendet werden, ist das Netz der impliziten Bezüge so eng geknüpft, dass ihre Rekonstruktion die Dynamik der Handlung ersetzt. Nicht weil nichts passierte, sondern weil die eigentliche Wucht der meist bedrückenden oder erschreckenden Geschehnisse im Text nicht mimetisch abgebildet oder expliziert wird, sondern erst im Akt der Entschlüsselung und Reflexion durch die Rezipienten/Lesenden auf diese einwirkt. Schrecken werden nicht unmittelbar dargestellt, sondern mittelbar, etwa über den Blick auf ihre Effekte, evoziert und wirken als eigene Verstehens- und Vorstellungsleistung im Lesenden umso intensiver nach.

Ähnlich wie in der Realität die Bedeutung schlechter Nachrichten die Betroffenen erst zeitversetzt erreicht, weil das Bewusstsein sich erst einmal weigert, sie zu glauben, baut Müllers Sprache, die immer auf Konkretes abzuzielen scheint und zugleich im Metaphorischen Anderes, Größeres, Unfassbares aufruft, einen Faktor der Verständnisverzögerung ein. Er intensiviert die Lektüre und verlangsamt sie zugleich und schafft damit ein eigenes Zeitgefühl, in dem Erwartungsspannung und Wahrnehmungsdehnung sich zu einem eigentümlichen Bewusstsein ›gefühlter Zeit‹ verbinden. Dieser Lektüreeffekt spiegelt zugleich eine atmosphärische Qualität der dargestellten Welt beziehungsweise ihrer Empfindung durch die Figuren wider; zwischen ›bleierner‹ Gegenwart, schmerzlicher Gegenwärtigkeit in Augenblicken aufblitzender Erkenntnis, zeitloser Vergänglichkeit und zyklischer Wiederkehr des Altbekannten bewegen sich die Zeiterfahrungen der Figuren. Sie werden alle unmittelbar bedingt durch die Lebensbedingungen in der Diktatur, deren zeitpolitisches Regime diktiert das öffentliche Leben (der Ernteeinsätze, Heizperioden, Feiertage) und die individuelle Alltagstaktung, durch das Warten auf eine Ausreisegenehmigung oder die Einbestellung zum Verhör: »Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn. Ich werde immer öfter bestellt: Dienstag Punkt zehn, Samstag Punkt zehn, Mittwoch oder Montag. Als wären Jahre eine Woche, mich wundert schon, daß es dabei nach dem späten Sommer bald wieder Winter wird.«ssss1


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