Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 39

Die spezifische ›ästhetische Eigenzeit‹ von Ceauşescus Rumänien und seiner Darstellung bei Müller grundiert das Lesen ebenso wie das Gelesene und durchwirkt Müllers Romane; auch wenn Personal, Schauplätze und jeweilige Handlungen sich unterscheiden, so erkennt man sie doch als Evokationen ein- und derselben Welt beziehungsweise als spezifische Sicht- und Erlebensweise, die sich im unverwechselbaren Blick und einer eigenständigen Erzählstimme mitteilt. Blick und Stimme sind fraglos von dem Gesehenen und zu Erzählenden geprägt, markiert und vielleicht auch versehrt; aber sie vermögen es ihrerseits, dem Erlebten und seiner Erzählung ihre Prägung zu geben. Sie wirkt fort – wer durch die Schule der Müller’schen Texte gegangen ist, wird Wirklichkeit unweigerlich anders sehen. Das rückt die Autorin in die Nähe von Peter Handke, Wilhelm Genazino oder W. G. Sebald, Autoren, die vorderhand andere Themen, Plotstrukturen und narrative Formen nutzen, deren wahrnehmungsbasierte Poetik aber ebenso über die Textlektüre hinauswirkt und dazu beiträgt, dass die Autoren durch ihren werkübergreifenden Autorstil Leser*innengemeinschaften haben – wie es auch bei Herta Müller der Fall ist.

Im Zentrum von Müllers Romanwerk stehen drei Romane: »Der Fuchs war damals schon der Jäger« (1992)ssss1, »Herztier« (1994)ssss1 und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« (1997). Sie erschienen in den 1990er Jahren nach der Übersiedlung der Autorin in die BRD (1987) und nach dem Sturz Ceauşescus (1989) in kurzer Folge innerhalb von fünf Jahren. Die Werke verbindet der thematische Fokus auf Ort und Zeit der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien sowie das autofiktionale Spannungsverhältnis der Stoffe zu Ereignissen im Leben der Autorin.ssss1 Stärker als Thema, politisch-historischer Kontext und Entstehungsumstände eint die Texte indes die intensive und unmittelbare Bildhaftigkeit, die »spezifische poetisch-stilistische Technik«ssss1 des Erzählens. Sie bewirkt unter anderem, dass Ereignisse als Erfahrungen, Stimmungen als Wahrnehmungen und Wirklichkeit, auch die brutalste und bedrängendste, als fantastisch beseelte Blickerwiderung der Realität auf ihren Betrachter in Erscheinung treten. Das gibt der Bedrohung und Überwachung durch die Securitate, den Erfahrungen von Hunger, Mangel und Enge, der Enttäuschung und dem Verrat durch Freunde eine über den konkreten Einzelfall hinausweisende existenziell beunruhigende, unheimliche Tiefe; und es zeigt die Sprache des erzählenden Ichs zugleich auf der Höhe ihrer Ausdrucks- und Handlungsmacht – als Souverän einer Fantasie, die paradoxerweise beides sein kann: Gegenpart und Katalysator der Brutalität der Außenwelt, Erkenntnisinstrument und Waffe der Erzählstimme. Sie richtet sich auch gegen sie selbst, denn die Sprache, die eine beängstigende und vom Ich nicht zu kontrollierende Wirklichkeit ›in den Griff bekommt‹, entwirft ja neue, ihrerseits beängstigende Bilder mit Eigenleben.


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