Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 30

Mit dieser hilflosen, ihren eigenen Wahrnehmungen ausgelieferten Figur entwickelt Müller schon früh ein wichtiges Merkmal ihres Stils. Drastisch schildert ihre Sprache Verletzungen, die Inge erlebt, indem sie keiner Ideologie einen Sinn abgewinnen kann, obwohl sie über keinen eigenen belastbaren Selbst- und Weltentwurf verfügt. Gewalterfahrungen und bedrückende Leere bestimmen demzufolge Inges Erleben. Weil sie die Staatsideologie nicht teilt, wirkt diese nicht sinnstiftend; ihre Sozialisation im System hat zur Folge, dass ihr sowohl öffentlicher Widerstand als auch eigenständige gesellschaftliche Gegenentwürfe sinnlos scheinen. Auch kommen die Machthaber als moralisch und intellektuell beschränkte Wesen daher – sie erinnern an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und vermitteln den Eindruck, eine gegen sie initiierte Revolte gar nicht begreifen zu können. Daher verlagert sich Inges Widerstand nach innen, in eine subjektive, individuelle Sprach- und Bildwelt. Diese Disposition wird nicht als individuelle Schwäche dargestellt, sondern als Effekt eines gesellschaftlichen Systems, das selbst keine Spielräume für offenen Widerstand zulässt. Im Leiden Inges an den Menschen, denen sie begegnet, äußert sich Kritik an der generalisierten Angst, an der Internalisierung der Regeln der Diktatur und an Automatismen, die an die Stelle zwischenmenschlicher Interaktionen getreten sind. Inge weigert sich, auf vorgefertigte Versatzstücke, auf Skripte zurückzugreifen, die in der sozialistischen Diktatur sicherstellen, dass die Einzelnen aus Sicht des Geheimdienstes Securitate keine Fehler begehen. Damit verschmäht sie das Sinnstiftungsangebot der totalitären Gesellschaft. So leistet sie eine Form passiven Widerstands, der mit eigener Beschädigung einhergeht – denn Inge ist den Gewaltmustern ausgesetzt, ohne die Partizipationsangebote der sozialistischen Gesellschaft wahrzunehmen und ohne ihr Widerständig-Sein mit anderen zu teilen.

Durchgehend findet sich im Innenleben Inges das Motiv der systematischen Umkehrung der in ihrer Gesellschaft bekannten Markierungen als Befreiungsakt – sei es, dass sie auf Landschaften, auf den menschlichen Körper oder auf einzelne Sinneswahrnehmungen bezogen sind. In einem Bewusstseinsstrom voller Montagen, die die allgemeine Proliferation der Täterschaft spiegeln, wird selbst die Vegetation übergriffig. Nicht nur die Natur, auch das eigene Empfinden und die Sprache, die der Verstand vergebens einsetzt, um sich zu orientieren, sind korrumpiert von allgegenwärtiger struktureller Gewalt. Gleichzeitig ringt Inge mit sich selbst, um sich davon zu lösen: »Der Himmel war dieselbe Betonplatte wie das Pflaster, auf dem Inge mit den Füßen stand. Inge musste auf dem Kopf gehen, weil der Himmel auch ein Gehsteig war.«ssss1 Im Fortlauf dieser surreal anmutenden Szene, die an den Anfang von Georg Büchners »Lenz« erinnert, spießt ein Baum Inge auf, sie bearbeitet darauf hin alle Blätter mit den Zähnen, »bis alle Blätter gezackt waren und einen anderen Baum bildeten. Inges Kopf drehte sich und stellte sich quer. Er stand mit dem Hals nach oben.«ssss1 In diesen Hals legt eine fremde Frau, eine Botin des Geheimdienstes, einen Strauß samtschwarzer Rosen – Kondolenzblumen – und beteuert, sie passten gut zu Inge, der Hals müsse bloß etwas tiefer werden.


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