Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 28
Auch und gerade Figuren des Abjekten kehren in der Bundesrepublik wieder: der onanierende Mann, für den die Protagonistin eine seltsame Anteilnahme empfindet. Diese liegt darin begründet, dass das Onanieren einer Internalisierung des Übergangsverbots gleichkommt. So wie in der totalitären Gesellschaft abgeschottete Systeme gewünscht sind, bleibt der Mann im eigenen Körper eingesperrt, er bezieht die anderen allerdings in missbräuchlicher Weise in sein Agieren ein: Am rumänischen Strand starrt er, hinter Büschen versteckt, auf kichernde Mädchen am Strand, in einer nächtlichen Straße Westberlins steht ein anderer Mann an einer Ecke, hält sich eine Aktentasche vor und flüstert Passantinnen – so auch Irene – etwas zu. Während sein rumänisches Pendant nicht als bedrohlich wahrgenommen wird, sondern allenfalls Mitleid weckt, erregt die Angst der Passantinnen vor einem Überfall den deutschen Onanierer.ssss1
Es geht Herta Müller freilich nicht darum, die demokratische und wesentlich freiere Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Staatssozialismus gleichzusetzen; vielmehr wohnt ihrer Poetik ein sehr feines Sensorium für kollektive Festschreibungen, Verweigerung von Individualität und fehlende Durchlässigkeit gegenüber Selbstentwürfen inne. Die Diskurse und Mechanismen, die individuelle Übergänge hier wie dort verhindern, werden in ihrer jeweiligen Spezifik (de)konfiguriert.
Herta Müller beschreibt in »Reisende auf einem Bein« Szenen der Verwahrlosung in der Bundesrepublik, die freilich weniger auf staatlichen Normierungszwang zurückzuführen sind als auf normalisierte Empathielosigkeit und auf die Kopplung von Ästhetik und Kommerz. Außerhalb der Verkaufsflächen mehren sich unwirtliche Räume: »Die ganze Stadt war die Rückseite der Stadt.«ssss1 Die Vorderseite wird in den Texten nicht eingeblendet, doch nicht die Versprechung, sondern die Verhinderung von Möglichkeiten sind von Belang.
»Inge. Einem Inspektor gewidmet«: Ironische Dekonfiguration der Propaganda
Das Editorial der »Neue(n) Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der SR Rumänien« von 1981, das auch drei Erzählungen Herta Müllers enthält, ist dem fünfzigjährigen Jubiläum der Zeitung »Scînteia« (dt. »Der Funke«) gewidmet. Bereits 1931 habe diese »gegen die Reaktion und den Faschismus, gegen den Krieg, für soziale Freiheit und nationale Unabhängigkeit, für Demokratie und Sozialismus« gekämpft; die »demokratische Presse«, die auch eine »revolutionäre« gewesen sei, habe die Richtung des »stets ansteigenden Wegs zum Fortschritt und zur Zivilisation« aufgezeigt, den die Gesellschaft nach der »Befreiung« beschreite.ssss1