Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 26

Herta Müllers frühe Texte sind somit vor allem Geschichten mühsamer Übergänge, die sich entweder wider alle Wahrscheinlichkeit gegen enorme Widerstände dann doch vollziehen oder ausbleiben und die Figuren in einer unerträglichen Aussichtslosigkeit zurücklassen. Erzwungen werden diese Übergänge durch eine schier unerträgliche strukturelle Gewalt, die zum einen in den banatdeutschen Gemeinschaften von Generation zu Generation weitergegeben wird, zum anderen im Staatssozialismus entsteht, der seine eigenen Bürger überwacht und einschüchtert.

Aktuell an Herta Müllers frühen Erzählungen ist zudem der transnationale Blick auf Europa. Wenn sich Gemeinschaften wie die banatdeutsche selbst dreihundert Jahre nach ihrer Einwanderung in ein Territorium, das mehrheitlich von anderen bewohnt wird, immer noch abschotten und einen Überlegenheitsanspruch aufrechterhalten, wird dies als Gewaltmoment dargestellt. Als Preis für die Gruppenzugehörigkeit müssen die Banatdeutschen auf inter- und transkulturelle Selbstentwürfe verzichten. Genau dies, nämlich Inter- und Transkulturalität im dargestellten mehrsprachigen Raum, wären in den Erzählungen Müllers ex negativo das Naheliegende – zumindest insofern, als die Segregation gegenüber Nicht-Deutschen und die Ehen innerhalb der Sprach- und Kulturgemeinschaft als Absurdität entlarvt werden. Übergänge systematisch zu unterbrechen oder zu verhindern, ist das gemeinsame Zeichen totalitärer Logik, das gemeinsame Signum der Gewalt, das den rumänischen Staat und die banatdeutsche Gemeinschaft verbindet.

In »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt« von 1987 werden die Grenzübertrittsverbote innerhalb der banatdeutschen Gemeinschaft mit jenen des Staatssozialismus parallelisiert: Betreffen im Fall normativer Ethnisierung die Verbote vermeidbare Interaktionen mit Rumänen und weiteren Nicht-Deutschen, untersagen Staat und Geheimdienst Begegnungen mit Bürgern kapitalistischer Staaten und Reisen in diese Länder. In dieser Erzählung wird die Familie Windisch zermürbt durch das Warten auf die Ausreisegenehmigung; ihre Beschädigung gipfelt nach zahlreichen weiteren Bestechungsversuchen im sexuellen Missbrauch der Tochter Amalie durch den Milizmann und den Pfarrer. Die Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern überschreibt hier jene zwischen den Deutschen und den von diesen gering geschätzten ›Walachen‹, denn die Männer teilen sich die Verfügungsgewalt über die junge Frau, die zu schwach ist, um sich zu wehren, und zu eigenständig, um nicht beschädigt zu werden.ssss1 Die karge, parataktische Sprache vermittelt in kurzen Sätzen den Druck, die Staatsgrenzen endlich zu überschreiten. Amalie empfindet wie Rudi, ein Junge aus dem Dorf, der für wahnsinnig gehalten wird, dumpf, aber deutlich, wie sehr einem die Freiheit im banatschwäbischen Dorf geraubt wird. Beide teilen die Faszination für Glaskörper, aus denen Rudi verzerrt-verstümmelte Kunstwerke baut. Der diaphane Charakter der Glaskörper verspricht Durchlässigkeit, Übergang und die Möglichkeit der Überwindung scheinbar nicht passierbarer Barrieren, seien sie gedanklicher, sozialer oder staatspolitischer Natur. Wahnsinn (im Falle Rudis), Flucht in den Westen (über den Fluss oder die Stacheldrahtgrenze) und Tod (als einziger verfügbarer Übergang) sind konkrete Bezugskoordinaten dieser Sehnsucht nach Übergängen. Freilich entlässt fatalerweise weder der ethnische noch der staatliche Ordnungszusammenhang die darin sozialisierten Individuen endgültig. Auch nach der Auswanderung und anlässlich eines kurzen Rückbesuchs zeigt sich, dass die Selbstbeschränkung nicht ohne Weiteres abgestreift wurde und die Übergänge unvollständig blieben.


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