Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 4

Schrift wird in diktatorischen Systemen also zum Gefährdungsmoment, macht angreifbar und verwundbar.

Wie bereits gesagt, wäre ein solches reflektiertes Schreiben für mich allein schon aus psychologischen Gründen gefährlich gewesen, weil mir dabei die eigene Notlage, die Gefährdung, die Angst erst so richtig vor Augen getreten wären. Für so etwas habe ich Abstand gebraucht. Erst während der Arbeit an »Niederungen« ist mir zum Beispiel auch so richtig bewusst geworden, was meine Kindheit eigentlich für mich bedeutet hat, welche Verhältnisse damals herrschten, wie schrecklich abgelegen und unheimlich diese ganze Gegend war, wie eine kleine verschlossene Kiste. Ich bin von dort weggegangen, mir war dieser Kindheitsort zuwider, hatte aber dennoch eine lange Zeit unendliches Heimweh danach. All das ist mir erst durchs Aufschreiben bewusst geworden.

Und noch ein Letztes zum Tagebuch: Beim Schreiben, wenn man also ins Wort geht, bewegt man sich in ein anderes Feld der Erfahrung hinein. Die Sprache ist ja ein ganz künstliches Metier und es stellt sich die Frage, wie komme ich davon wieder los, wenn ich etwas schon einmal, beispielsweise im Tagebuch, fixiert habe. Soll ich das jetzt respektieren, weil es Sprache ist und ich, wenn ich an einem fiktionalen Text arbeite, auch in der Sprache bin, oder soll und kann ich dieses Fixierte außer Acht lassen? Irgendwie sind solche Aufzeichnungen in ihrer ja doch literarischen Form eine Art ›Zwischenlandung‹. Und was mache ich dann damit?

Erinnerung ist oft unscharf, manchmal trügt sie. Besonders wenn man aus dem Kopf zitiert, führt das zu teils kuriosen Fehlern. Prüfen Sie zum Beispiel Zitate, um Irrtümer zu vermeiden? Etwa wenn Sie, wie in »Der Fuchs war damals schon der Jäger« oder »Herztier«, Gedichte und Lieder zitieren?

So ist das, wenn man Zitate, die man auswendig zu wissen glaubt, nach Jahren aufschreibt, so wie man sie im Kopf mit sich herumträgt. Und dann sagt dir ein Lektor, das Zitat stimmt nicht. Ist nicht möglich, denkst du, schaust nach und merkst, dass du es über die Jahre zugeschnitten hast, vielleicht einer inneren Notwendigkeit folgend. Generell ist Recherche wichtig, weil auch das Fiktionale Glaubwürdigkeit braucht. Wenn du beispielsweise einen Ortsnamen oder ein Geschichtsdatum verwendest, dann kannst du zwar in deinem Roman darüber schreiben, aber sollten der Name oder das Datum nicht korrekt sein, wird die Glaubwürdigkeit des Textes beschädigt. Für »Atemschaukel« etwa war eine solche Korrektheit für mich selbstverständlich. Um über Deportation und über das Leben in einem Lager zu schreiben, war ein hohes Maß an Recherche unerlässlich. Ich musste beispielsweise wissen, wie viele deportiert wurden und wann, und da der Abtransport im Januar erfolgte, konnte ich die Bilder, die vom Erfrieren handeln, verwenden, aber wenn er im Mai oder im Sommer erfolgt wäre, hätte ich mit anderen Bildern arbeiten müssen. Recherche ist auch Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, über den man schreibt.


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