Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 44

Das Gedicht und seine politische Brisanz werden zum Anlass und Gegenstand mehrerer Verhöre der Hauptfiguren durch einen Hauptmann der Securitate; das Freundschaftsgedicht und sein Sujet sind aber auch insofern Leitmotiv des Romans, als die Berechtigung der mütterlichen Warnung in unterschiedlichen, allesamt im Wortsinn fatalen Figuren- und Beziehungskonstellationen von Freundschaft durchgespielt werden: Vier aus deutschstämmigen Dörfern und Kleinstädten stammende Student*innen, die Ich-Erzählerin und ihre Freunde Edgar, Georg und Kurt, finden nach dem Selbstmord der Zimmergenossin Lola deren Tagebuch, versteckt im Koffer der Ich-Erzählerin. Durch die Lektüre verstehen sie im Nachhinein den ärmlichen familiären Hintergrund der jungen Frau als Motiv für ihr Aufstiegsstreben und ihre wechselnden Männerbekanntschaften, darunter auch ein privilegiertes Parteimitglied, ein Mann, dessen »weißes Hemd«ssss1 als eines der Müller-typischen Ding-Symbol-Indizien funktioniert (s. u.) und schon auf die Schuld des Mannes – er schwängert Lola und zeigt sie beim Lehrstuhl an, als sie ihm zu nahezukommen droht – vorausweist ebenso wie darauf, dass er sich seiner Verantwortung und jeder Verfolgung entziehen kann.ssss1 Die nachträgliche Solidarität der Protagonistin mit Lola geht mit politischer Verunsicherung einher – zuvor hatte die Erzählerin noch dem posthumen Parteiausschluss der Selbstmörderin zugestimmt – und macht die zuvor Unauffällige der Securitate verdächtig, ebenso wie die drei Freunde. Die weiteren Lebenswege der vier Protagonisten als Lehrer auf dem Land, Ingenieur in einer städtischen Fabrik und Übersetzerin sowie ihre jeweiligen Bedrängnisse, Beschimpfungen und Repressionen, die in Entlassung, Ausreiseanträge, rätselhafte Tode im Ausland und zweifelhafte Selbsttötung vor der Ausreise münden, variieren die prekäre Gefährdung von Freundschaft unter den Bedingungen der Diktatur. Verdichtet wird diese Erfahrung in ihrer emotionalen Widersprüchlichkeit in einer ebenfalls fatalen Frauenfreundschaftskonstellation, als die Ich-Erzählerin, inzwischen Übersetzerin in einer Fabrik, ihre dort gewonnene Freundin Tereza, Tochter eines angesehenen Parteimitglieds, verliert – durch deren Krebstod und deren Verrat. Beides wird durch den Geheimdienst so miteinander verquickt – der Kranken wird Zugang zu einer besseren Therapie versprochen, wenn sie den Wohnungsschlüssel der inzwischen in den Westen ausgereisten Freundin bei einem dortigen Besuch kopiert –, dass der Tod, der die Vergeblichkeit des Freundschaftsopfers besiegelt, die Verräterin selbst zum mehrfachen Opfer macht: zum Opfer der Krankheit, der falschen Hoffnungen, der Versprechungen und Drohungen der Securitate und der Enttäuschung der verratenen Freundin. Die Erzählstimme vollzieht diese Überblendung nach, indem sie den tödlichen Tumor als ›Nuss‹, in und mit der der Verrat wächst, konkretisiert: »Die Nuß wuchs gegen uns. Gegen alle Liebe. Sie war bereit zum Verrat, gefühllos für die Schuld. Sie fraß unsere Freundschaft, bevor Tereza an ihr starb.«ssss1


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