Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 46

Die in der konkreten Situation der Diktatur geschulte Wahrnehmung ist ebenso Überlebensinstinkt wie poetische Gabe; die Mehrdeutigkeit der Bilder und der Sprache sind Gefahr und Geschenk – das führen die Romane auf engstem Raum vor, ohne es weitschweifig explizieren zu müssen.

Zur Dichte des Verfahrens – wie zum Raumgefühl einer begrenzten, beengten und überwachten Welt – tragen dabei wesentlich zwei Eigenarten der Müller’schen Erzählweise bei: die interne Fokalisierung, das heißt die Beschränkung der Sichtweise und des mitgeteilten Weltwissens auf die Perspektive, oft sogar auf das konkrete Gesichtsfeld einer Figur, und die selbstbewusste Lakonie, mit der die Erzählstimme diese Sicht der Welt kommentar- und erläuterungsfrei vorträgt, häufig in Form einer Metapher, die ein tertium comparationis voraussetzt und impliziert, und eben nicht als explizierender Vergleich. Nur der Verzicht auf eine im traditionellen Sinne ›allwissende‹ Erzählinstanz oder eine Erzählstimme mit Überblick ermöglicht dem Leser eine Immersion in die erzählte Welt, bei der er Hilflosigkeit, Desorientierung und Einschüchterung der Figuren nachempfinden kann, indem er ihre notwendig beschränkte Sichtweise teilt und ähnlich wie sie darauf angewiesen ist, alle Beobachtungen als Zeichen zu deuten und zum Verständnis der Welt und der eigenen Orientierung in ihr zu nutzen – denn es ist ja gerade die behauptete Allmacht des Kontrollstaates, sein »Wir wissen alles«,ssss1 dem die Protagonisten trotzen. Insofern ist die Wahl der Fokalisierung auch ein Bekenntnis zu den Opfern und eine Parteinahme der Autorin für sie. Die Gefahren der in bezugs- und bedeutungsreiche Details zersplitterten Weltsicht und ihre Nähe zur Paranoia liegen auf der Hand; ebenso gewichtig sind aber der poetische Mehrwert dieses ›fremd(geworden)en Blicks‹ssss1 und seine hermeneutisch-epistemologische Bedeutung.

Wie sich perspektivisches Erzählen, kriminalistische Spannung, Metaphorik und Erkenntnistheorie in Müllers Romanen wechselseitig bedingen und plausibilisieren, lässt sich am Umgang mit Ding-Objekten ersehen: Alle Figuren, Orte oder Gegebenheiten werden aus der Nahperspektive eines erlebenden Ichs präsentiert, also weitgehend erklärungslos, und in der Regel auch nahezu privatsprachlich benannt, mit Spitz- oder Übernamen, sofern es sich um nähere Bekannte handelt, oder mit Vornamen, aber nie mit vollständigen Namensbezeichnungen aus Vor- und Nachnamen. Manche auch für die Handlung wichtige Figuren – etwa der Mann, der den Selbstmord der schwangeren Lola (in »Herztier«) zu verantworten hat – bleiben sogar namenlos, was sich aus dem begrenzten (und Täuschungen unterliegenden) Wissenshorizont der Erzählstimme erklärt. Statt über Namen werden die Figuren über ein Detail ihrer Kleidung (Hemd, Anzug oder Sonnenbrille),ssss1 eine physiognomische Besonderheit oder ihre äußere Erscheinung (der Zwerg, der Angler),ssss1 ihren Beruf (Friseur, Schneiderin, Pförtner, Direktor, Vorarbeiter)ssss1 oder ein Ding-Objekt (z. B. das Motorrad in »Heute wär ich mir …«) von anderen Figuren unterscheidbar gemacht. Das erlaubt eine (relative) Individuation innerhalb einer als sowohl gleichförmig als auch anonym wahrgenommenen menschlichen Umwelt: »sie sind wiedererkennbar, ohne in ihrer Identität bekannt zu werden«.ssss1 Die Markierung bleibt auch innerhalb der figurenperspektivischen Wahrnehmung (und Erzählweise) insofern schlüssig und glaubwürdig, als sie über visuelle Merkmale motiviert ist, also kein Mehr- oder Hintergrundwissen voraussetzt, das ja nur über eine Übersicht (oder eine externe, über- oder interpersonelle Form der Fokalisierung) möglich wäre. Zugleich mit der Kenntlichmachung übernimmt das Ding-Symbol einerseits die Funktion, die Figur (metaphorisch) zu charakterisieren (per Anzug als korrekten Angestellten oder per Motorrad als jugendlichen Draufgänger) und metonymisch als Teil seines Körpers oder Besitztums für den oft namenlosen oder nur mit dem Vornamen Benannten einzutreten – in der Gedankenwelt der Erzählerin und in ihrer Erzählung. Zu dieser doppelten Stellvertretungsfunktion tritt oft innerhalb der Romanhandlung eine – quasi kriminalistische – Indizienfunktion, wenn am (Wieder-)Erkennen von Hemd/Kleidungsdetail oder Motorrad der Träger/Besitzer als (verdeckter) Mitarbeiter der Securitate, als mit den staatlichen Organen kooperierend oder von ihnen bezahlt, jedenfalls als Täter oder Verräter erkannt und überführt wird. Wer mit der Poetik der Autorin vertraut ist, vermag deshalb wiederkehrende Objekte nicht nur als Metaphern oder Metonymien zu erkennen, sondern sie auch symbolisch zu lesen, insofern sie – innerhalb des Müller’schen Werks und ihrer genreübergreifenden Poetik – jene Eigenschaften aufweisen, die man gemeinhin Symbolen zuweist. Müllers literarische Mimesis spricht den Dingen ihren überindividuellen Bedeutungswert nicht nur im Text als poetische Zeichen zu, sondern behauptet ihn auch für die Sphäre der wahrgenommenen Wirklichkeit. Das macht die Autorin streitbar und verleiht ihrer Stimme Autorität – nicht nur in ihren Romanen.


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