Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 23

Bei näherem Hinsehen ist der Übergang nicht nur ein Motiv, das in Gestalt eines Wunschtraums die Figuren beschäftigt (ob es um Flucht, Todessehnsucht oder die Überschreitung kultureller und sprachlicher Grenzen geht), sondern auch ein ästhetisches Prinzip. Der Grund dafür ist einfach: Die totalitäre Ordnung und ihre Sprachessss1 bauten auf vermeintlich unfehlbare Referentialisierung, eindeutige Ordnungs- und Handlungsmuster im öffentlichen wie im privaten Raum auf.ssss1 Überschreitungen dieser Grenzziehungen waren weder als Praktiken noch als Semantiken erwünscht. Herta Müllers innovative Metaphern, ihre Serien von Bildern und Begriffen, die von subjektiven Ähnlichkeitsrelationen zusammengehalten werden, lassen sich als Teil einer Poetik des Übergangs verstehen, die sich in jeder Hinsicht widerständig zu den abgesteckten Revieren verhält, die das totalitäre Regime Ceauşescus dem Denken, Empfinden und Handeln der Einzelnen zugestand.

Inhalt und Form der Texte lassen sich auffassen als Auseinandersetzung mit den sprachlichen und polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen, die sowohl die banatdeutsche Gemeinschaft als auch das staatssozialistische Rumänien in je unterschiedlicher Weise ergriffen haben, um übergängiges Denken und Handeln, individuelles Empfinden, selbstwirksames Agieren und Originalität zu verhindern. Im Versuch dennoch Übergänge zu gestalten, stoßen Einzelne an die streng bewachten Grenzen der Sprache und Ordnungsmuster und provozieren jene Verletzungen, die ihnen das System zufügt.

In den letzten beiden Jahren vor der Wende erzählen die Texte immer häufiger auch von den Übergängen zwischen Deutschland und Rumänien sowie zwischen der deutschen Mutter- und der rumänischen Umgangssprache.ssss1 Herta Müllers Prosa wird in diesen Jahren selbst ›übergängig‹, denn sie gehörte zwei konträren Gesellschaftssystemen an, erschien in einem jeweils völlig anders gearteten institutionellen Umfeld und richtete sich an die rumänische und die bundesdeutsche Leseöffentlichkeit, die verschiedener kaum hätten sein können. Die Erzählungen der mittlerweile in Berlin ansässigen Schriftstellerin standen in einem starken Spannungsverhältnis zu den Erfahrungswelten der bundesdeutschen Rezipient*innen, während die deutschsprachigen Leser*innen in Rumänien die realistische Intensität der Erzählwelten spürten, in denen sie sich wiederfanden. Dennoch waren die Texte auch und gerade wegen ihres ›übergängigen‹ Charakters in beiden Ländern erfolgreich; erst recht nach der Systemwende wuchs das Interesse daran immer weiter. Möglicherweise hing diese Erfolgsgeschichte nicht allein mit der sprachkünstlerischen Qualität der Texte sowie ihrer Funktion als Seismogramme seelischer Verletzungen in einer der repressivsten Diktaturen der Nachkriegszeit zusammen, sondern auch damit, dass ein transnationales Verständnis Europas und seiner Geschichte immer wichtiger wurde. Dazu gehören die Perspektiven deutschsprachiger Gemeinschaften wie der Banatschwaben – die zugleich auch rumänische Bürger unter der Diktatur sind und außerdem oft in den Nationalsozialismus verstrickt waren, was aber weder in der Bundesrepublik noch in Rumänien aufgearbeitet wurde – und die später großenteils verdrängten Deportationen in russische Arbeitslager. So verweist die Erzählung »Überall, wo man den Tod gesehen hat« aus dem Band »Barfüßiger Februar« auf die Shoah in der Maramuresch, einem Landstrich in Nordrumänien: »Da steht der große schwarze Stein, das Denkmal für die 38 000 Juden aus der Maramuresch, die im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und vergast worden sind.«ssss1 Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden nicht nur in diesem Text Müllers thematisiertssss1 – insbesondere auch diejenigen des eigenen Vaters. In der »Grabrede«, eine in »Niederungen« aufgenommene Erzählung, die schon 1980 in der Zeitschrift »Neue Literatur« erschienen war, erfährt die Tochter auf dem Friedhof anlässlich der Beerdigung ihres Vaters von einem der Sargträger, dass der Vater als Waffen-SS-Soldat an Massenerschießungen beteiligt gewesen war, an einer Massenvergewaltigung teilgenommenen und dabei eine Frau vorsätzlich brutal verletzt hat. Als SS-Soldat war der Vater aber auch in Deutschland gewesen, hatte an Gräueltaten teilgenommen und war, verstört, aber als Täter belastet, ins Banat zurückgekehrt; eine Aufarbeitung seiner Schuld hat es nie gegeben. Seine Tochter erlebt die Bestattung als eigene Beschämung und Verletzung, ja als Hinrichtung im Namen der Dorfgemeinschaft, die ihr eine doppelte Schuld auflädt: Zum einen jene des Vaters, zum anderen die für die Abweichung von der Dorfmoral (sie trägt zur Beerdigung eine durchsichtige Bluse). Der Übergang in den Tod – ihre Hinrichtungsszene – findet aber, wie sich am Ende herausstellt, nur im Traum statt.


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