Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 22

Meine Collagen sind konventionell, nicht experimentell. Ich möchte mit ihnen etwas sagen, einen bestimmten Inhalt transportieren. Und vielleicht auch: Ich möchte etwas zusammensetzen, weil ich so viel Zerbrochenes kenne. Die Collagen haben übrigens auch nichts mit Droh- oder Erpresserbriefen gemein, wie es immer wieder in Besprechungen zu lesen gewesen ist. Das macht mich wütend, weil ich denke, meine Güte, was für eine unmögliche Assoziation. Ich weiß nicht einmal, wie ein richtiger Erpresserbrief aussieht.

Das ist dann doch etwas ganz anderes: die zerbrochene Form, die etwas mit der zerbrochenen Biografie, mit brüchigen Erfahrungen und der abgebrochenen Biografie zu tun hat …

Es gibt mir Sicherheit, wenn ich weiß, ich habe dieses Reservoir an Zeitschriften und Verlagsprogrammen. Ich kann diesem Reservoir entnehmen, was ich will und wie ich es will. Ich kann entscheiden, was für meine Arbeit taugt. Wörter aus einem Boulevardblatt, das für sich nichts wert sein mag, taugen für mich dennoch als Material. Das ist für mich meine Freiheit bei dieser Arbeit. Aber es gibt auch eine Regel, die ich mir gesetzt habe: Mein Format ist die Größe einer Ansichtskarte. Ich kann nur so viele Wörter und Bilder benutzen, dass sie Platz auf dieser Karte haben, mehr nicht. Das ist die Regel und das andere ist die Freiheit. Das ist wie im Leben: Da sind die Tatsachen und in die Tatsachen muss ich die Freiheit hineinkriegen, immer wieder muss sich die Freiheit an den Tatsachen reiben, so lange, bis ich das Höchstmögliche, das ich mir wünsche, erreiche. Das ist Arbeit.

Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Gespräch.

Berlin, Januar 2020

Iulia-Karin Patrut

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Bis zum europäischen Systemumbruch 1989 hatte Herta Müller vor allem in rumänischen, aber auch in einigen bundesrepublikanischen Zeitschriften und Zeitungen (u. a. »Akzente«, »Die Zeit«) Lyrik und Prosa veröffentlicht. Erschienen waren in Rumänien zwei Prosabände sowie einzelne Erzählungen; in der Bundesrepublik zwei Erzählungsbände (nicht identisch mit den in Rumänien publizierten) sowie eine Erzählung und ein Roman. Um diese Texte wird es hier gehen; ihnen ist gemeinsam, dass sie von der direkten Auseinandersetzung mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate, von Staatsgewalt und Zensur handeln. Nicht minder bedeutsam ist aber, dass es genau diese Umstände waren, die Herta Müllers Schreibweise geprägt haben und die außerdem motivischer Ausgangspunkt ihres Schreibens bis heute geblieben sind. Herta Müllers eigentlicher Anfang literarischen Schreibens fällt mit dem Tod des Vaters zusammen, der Mitglied in der Waffen-SS gewesen war und von der Tochter wegen seiner Kameradschaftslieder und seines Alkoholkonsums als abstoßend und als abweisend empfunden wurde. Als Iosif Müller am 6. Februar 1978 starb, hatte sich seine Tochter bereits aus der beengenden Welt des banatschwäbischen Nitzkydorf befreit, hatte sich in der Kreisstadt Temeswar (Timişoara) eine neue Alltagssprache, das Rumänische, angeeignet, die das Banater ›Minderheitendeutsch‹ ablöste. Sie hatte 1976 ihr Studium der Germanistik und Rumänistik in Temeswar beendet und auf die Vermittlung Nikolaus Berwangers (Leiter des Adam-Müller-Guttenbrunn-Schriftstellerkreises und Herausgeber der Zeitschrift »Neue Literatur«) eine Anstellung als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik gefunden. Lyrische Texte wie »Am Schwengelbrunnen« oder »Legende«, die 1972 in »Wortmeldungen. Eine Anthologie junger Lyrik aus dem Banat« erschienen, wurden durchaus wahrgenommen und geschätzt; auch die »Neue Banater Zeitung« druckte zwischen 1970 und 1976 regelmäßig Gedichte Herta Müllers. Die Gedichte sind keineswegs glatt und harmonisch, sie setzen sich – anfangs mit Humor, später sprachskeptischer, wie in »Niemals« von 1976 – mit der Anfälligkeit der Welt, aber auch mit der Unzulänglichkeit von Traditionen wie Emotionen auseinander. Herta Müller verwirft später die zwischen 1970 und 1976 entstandenen Texte aber als erste Versuche, die vor ihrem eigentlichen schriftstellerischen Werk liegen, das für sie erst nach dem Tod des Vaters einsetzt. Ab 1978 beginnt Müller hauptsächlich Kurzprosa zu schreiben; diese Phase setzt mit »Die Strassenkehrer« in der Zeitschrift »Echinox« ein und endet 1985 mit »Matthias« in »Neue Literatur«.ssss1 Bereits ein Jahr zuvor, 1984, war im Berliner Rotbuch Verlag der Band »Niederungen« erschienen, der im Vergleich zur Bukarester Ausgabe von 1982 eine geringere Anzahl an Erzählungen enthielt (nur jene in der Ich-Form). War der Folgeband »Drückender Tango« in Bukarest bereits 1984 erschienen, folgte im Berliner Rotbuch Verlag 1987 der Band »Barfüßiger Februar«, der neben einigen neuen Texten Erzählungen aus »Drückender Tango« enthielt; insgesamt entstanden in dieser Zeit 73 Prosatexte, von denen bei Weitem nicht alle auch in Deutschland publiziert wurden.ssss1 Im Jahr 1986 erschien in Deutschland eine bemerkenswerte, lange Erzählung, die ansatzweise schon wie ein Roman angelegt ist: »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt« – eine Erzählung, in der sich der auf den Einwohnern eines Banater Dorfes lastende Druck so lange steigert, bis sich die Fluchtversuche häufen und immer mehr Menschen alles daran setzen, die Ausreisedokumente zu erhalten. Nachdem Herta Müller 1987 nach Westdeutschland übergesiedelt war, folgt mit »Barfüßiger Februar« im selben Jahr zunächst ein weiterer Prosaband. Der Roman »Reisende auf einem Bein«, 1989 erschienen, lässt sich als Seismogramm des Systemwechsels und der Begegnung mit der bundesdeutschen Gesellschaft lesen. Als Dokument des Übergangs schließt er die erste Schaffensphase ab, die von den literarischen Produktionsbedingungen eines durch die zwei Systeme gespaltenen Europa geprägt war.


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