Читать книгу TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller онлайн | страница 21
Insofern ist das Schreiben mit der Schere auch ein Schreiben nach Orten. Dort drüben auf dem Fußboden liegt das Material, die Zeitschriften, die Prospekte. Hier, entlang der Wand, liegen einzelne Seiten mit Wörtern und Buchstaben, die ich ausschneiden möchte. Dazwischen befinden sich Häuflein aus ausgeschnittenen Wörtern und Buchstaben, von denen ich weiß, aus ihnen sollen einmal Collagen entstehen. Und manche dieser Häuflein, die ich mir zurechtgelegt habe, die müsste ich eigentlich nur noch zusammenkleben. Aber dann fehlt mir die Lust dazu, weil ich schon wieder anderes im Kopf habe. Die Häuflein aber bleiben liegen, und oft vergeht so viel Zeit, dass ich, wenn ich mir ein Häufchen dann doch wieder vornehme, nicht mehr weiß, was ich damit wollte. Da denke ich mir, jetzt ist aber Schluss. Dann ist die innere Bereitschaft weg. Die hat sich einfach weggeschlichen oder sie ist mir abhandengekommen. Aber auch, wenn ich an einer Gruppe von Wörtern weiterarbeite, bleibt es spannend bis zum Schluss. Denn jedes Wort ist so individuell wie eine Situation. Es geht ja nicht nur um seine Bedeutung, genauso wichtig ist, wie es aussieht, aus welchen Farben es besteht, aus welchen Schrifttypen, wie es daherkommt. All das haben die Wörter bereits in sich, ich muss nichts tun außer suchen.
Und dann die Wörter hier an den verschiedenen Orten auch finden.
Finden, oder Nichtfinden. Ja, es gibt auch die Verzweiflung des Nichtfindens. Ich weiß, das Wort ist da, ich muss es nur finden, aber ich finde es nicht. Oder, auch nicht besser, ich finde es und dann passt es nicht. Dass ich meistens aber Freude habe mit den unendlich vielen Wörtern, hat, glaube ich, mit meiner Biografie zu tun. Dieser Überfluss an Wörtern ist für mich eine Art von Freiheit. Das macht für mich den Sog dieser Art von Arbeit aus, sie hat einen ganz anderen Sog, als wenn ich mit der Hand etwas schreibe oder am Computer, einen Prosatext oder einen Essay, es ist eine andere Ausgangssituation.
Dieses Glück des Findens oder das Unglück des Nichtfindens ist aber nicht einfach ein zufälliger Vorgang so wie in den dadaistischen Gedichten des frühen Tristan Tzara, in denen der Zufallswurf entscheidend war. Das entspricht nicht Ihrer Art der Arbeit, Sie betten das Gefundene ja stets in eine Struktur ein.