Читать книгу Der Flug des Vogels онлайн | страница 10

Sie schüttelte den Kopf, als wundere sie sich, daß ein Mensch überhaupt einen so langen Weg zurücklegen kann. Mehr zu sich, als zu mir, sprach sie weiter: »So ein langer Weg, so ein verflucht langer Weg. Und durch wieviel Dreck man gehen muß.«

Ich schwieg. Aus den Augenwinkeln sah ich Karin Hagen, die an einem anderen Tisch servierte.

Vera Beininger sah mich an und lächelte: »Wann haben Sie das letzte Mal an Ihren Knien gerochen?«

»Wie bitte?«

»Erinnern Sie sich nicht? Alle Kinder riechen im Sommer gern an ihren Knien. Das ist ein eigentümlicher Geruch. Nach Sonne, nach Sand und nach erstem Schweiß. Ein unwiederbringlicher Geruch.«

Ich schwieg.

»Ich erinnere mich immer wieder daran. Und der Geruch ist noch in meiner Nase. Manchmal wenigstens. Es ist mir häufig so, als ob es erst gestern gewesen ist, daß ich ein Kind war, das an seinen Knien roch. Doch dann weiß ich, es ist vorbei.«

Aus ihrem rechten Auge löste sich eine Träne und zog eine Linie durch die Schminke.

»Oder glauben Sie, daß man irgend etwas aus seinem Leben zurückholen kann?«

Ich schüttelte den Kopf: »Nein, nichts.«

»Nein, nichts«, wiederholte sie und schniefte.

»Nur bewahren«, sagte ich. »Aber auch das schafft man nicht immer.«

»Bei dem Geruch der Knie habe ich es geschafft«, sagte sie und lächelte.

Viel zu spät nahm ich die Unruhe am Eingang des Cafés wahr. Viel zu spät.

Ich hörte einen Mann den Namen Beininger brüllen und weiß noch, daß ich mich darüber wunderte. Die Frau neben mir stand auf und wollte sich umdrehen. Aber dazu kam sie nicht mehr. Eine ungeheure Detonation rollte durch den Raum, dann noch eine und ich dachte: »Magnum .45.«

Ich hörte das Klirren von Porzellan und Schreie. Neben mir sagte eine ältere Frau: »Mein Gott«, und rutschte von ihrem Stuhl. Sie hatte wohl schon gesehen, was ich erst jetzt sah. Die gesamte Brust Vera Beiningers war eine blutige Masse. Dazwischen Fetzen ihrer Seidenbluse. Der weiße Marmortisch troff vor Blut. Und Vera Beininger stand, sah mich mit ihren grauen Augen an. Unverwandt. Sie bewegte die Lippen, aber ich konnte nichts hören. In ihrem Gesicht stand ein maßloses Erstaunen, so als hätte sie alles Mögliche erwartet, nur nicht das, was eben hier passiert war. Dann knickte ihr Oberkörper ein. Sie krachte auf den Marmortisch, riß ihn mit sich. Sie fiel zuerst auf den Boden, der Tisch landete neben ihr. Das Porzellan klirrte und zerbrach. Dann war Ruhe. Ich sah, daß mein weißes Oberhemd voll Blut war.


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